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Streichquartett Nr. 6, op. 76 "dona nobis pacem"

Analyse von Frank Michael`s Streichquartett Nr. 6, op. 76

„dona nobis pacem“

Um die Analyse dieses 180 Takte umfassenden Werkes zu beginnen, muß auf die verschiedenen Schichten, die zum Verständnis der Komposition beitragen und die dem Analysierenden quasi einen Schlüssel in die Hand geben, eingegangen werden.

1) Intention

Außermusikalisches Thema und die damit verbundenen „Seelenlage“ des Stückes

2) Musikalisches Material

  1. a) Zitatebene, äußerliche und innerliche, d.h. aus anderen Werken entlehntes musikalisches Material oder Motivik, die „selbsterfunden“ ist.
  2. b) Erscheinungsformen der benutzten Zitate und deren Einbettung in die Seelenlage des Stückes
  3. c) Spieltechnische Aspekte
  4. d) Vortragsanweisungen
  5. e) Bedeutung von Zahlen

Die unter Punkt 2 aufgeführten Aspekte werden nicht isoliert betrachtet, sondern es soll hier der Versuch unternommen werden, diese immer in Zusammenhang mit dem Stimmungsgehalt einer jeweiligen Stelle zu bringen.

Zu 1)

Das Werk bezieht sich in seiner Intention auf den 11. September des Jahres 2001, an dem die zwei Türme des World Trade Center in New York durch einen kriegerischen Akt islamistischer Terroristen zerstört wurden und fürchterliches Leid für die Angehörigen und Freunde der 3000 Opfer verursachten. Die Grausamkeit eines solchen Verbrechens schockte nicht nur die amerikanische Öffentlichkeit, sondern die ganze Welt.

Als angemessene Reaktion erschien es Frank Michael, ein Werk zu schreiben, das zwar auch den Krieg thematisiert, aber nicht primär in den Mittelpunkt stellt.

Vielmehr straft der Komponist die Aggressoren und Kriegstreiber mit Missachtung, indem er sich auf einen pazifistischen Pfad, diese schrecklichen Ereignisse zu bewältigen, begibt, indem er den Ruf nach Frieden in den Mittelpunkt stellt.

In einer solchen Herangehensweise spiegelt sich auch die Auffassung wieder, dass das Ertönen von Kriegstrommeln als aggressive Gegenreaktion, trotz in dem Maße erfahrenen Unrechts der falsche Weg ist.

Vielmehr ist das stille Gebet und die Bitte um Frieden, die in meditativer Einkehr und aus Überzeugung, dass dieses der richtige Weg sei, gebetet wird, die einzige angemessene Reaktion auf solch ein Unrecht an Unschuldigen.

Es gibt einen Ebene der Zahlenmystik in diesem Werk, auf der sich aggressives Verhalten als ideologisch eingebettetes Mittel zum Durchsetzen religionsideologischer Interessen selbst ad absurdum führt.

Hierauf wird am Ende der Analyse noch einmal detaillierter eingegangen.

Das Stück umschreibt also die Bitte nach Frieden und kreist dabei um Begriffe wie Krieg, Leid, Trauer, Schmerz, Hoffnung und Liebe, als zentraler Begriff für Voraussetzung für Frieden.

Zu 2)

Michael verwendet mehrere Zitate:

Zunächst soll auf die äußerliche Zitatebene eingegangen werden, das heißt eine Zitatebene, auf der Motivik aus anderen Musikstücken übernommen wurde, die teils wörtlich, teils in veränderter Form in Erscheinung treten

1) Beethoven, Missa Solemnis:

Im „Agnus Die“ bei Beginn des „dona nobis pacem“ lässt Beethoven den Chor a capella diese Bitte um Frieden singen. Das Thema, das der Sopran in diesen 4 Takten singt wird von Michael vielfach zitiert.

(NB 1)

In diesem Satz Beethovens gibt es eine weitere interessante Stelle:
Beethoven ändert das Tempo auf einmal in allegro assai. Es beginnt eine Kriegsszene, die die Pauke mit einem unheimlichen Solo beginnt und die von den Trompeten in Horngängen weitergeführt wird, immer noch von den Pauken begleitet.
Dies alles findet im pianissimo statt und erinnert an eine ferne Kriegsszenerie, die sich mit Signaltrompeten (Trompeten) und Marschtrommeln (Pauken) ankündigt.
Der Alt antwortet, oder reagiert vielmehr auf diese Szenerie mit dem „Agnus Dei“ und zwar „timidamente“, also ängstlich. Der Alt wendet sich quasi vom weltlichen Kriegsgeschehen ab, um mit Gott in meditative Verbindung zu treten und somit Schutz und Geborgenheit zu finden.

(NB 2)

Wir haben hier also genau die Geste, die oben beschrieben ist:

Auf eine herannahende bedrohliche Situation wird nicht zu den Waffen gegriffen, sondern der Blick richtet sich zu Gott mit der Bitte um Erbarmen.

Michael verwendet hieraus das Kriegssignaltrompetenmotiv (siehe NB 2)

2) Mittelalterliches Virelai: „l`homme armee“

Diese Virelai handelt in seinem kurzen Text von der Warnung vor einem bewaffneten Mann, vor dem man fliehen solle:

(NB 3)

Auch dieses Lied impliziert Angst. Angst vor kriegerischem Potential. So erinnert die Tonwiederholung in der Melodie an ein Trommelschlagen.

3) Das Thema (1. Tenor) aus Josquins „Missa da Pacem“, Agnus Dei.

(NB 4)

Michael spaltet den 2. Takt des Josquinschen Themas ab und nimmt ihn als Vorlage für eine quasi leitmotivische Kopplung an die Worte „dona nobis pacem“

4) Seufzer (ab Takt 149 )

Weitere Zitate werden der inneren Zitatebene zugeordnet, auf der der Komponist eigene Zitate verwendet, die aus vom Komponisten selbst verfassten Stücken , oder aus einer ihm eigenen typischen Art und Weise (Initialien-Motivik), Motivik zusammenzustellen, resultieren.

5) Intervallkonstellationen, die sich wie ein roter Faden durch das Stück ziehen:

  1. a) große Terz + große Sext
  2. b) kleine Sekunde + große Sekunde (diese Intervallik ist aus den Initialen seiner

verstorbenen Frau abgeleitet und zeugen dadurch von einer erlebten persönlichen Auseinandersetzung mit dem Tod).

  1. c) die Kombination von 5a+ 5b ist hier sozusagen leitmotivisch gekoppelt an die Worte „dona nobis pacem:

    (NB 5)

zu 2b,c,d:

Das Stück beginnt mit tiefster Lage der Bratsche. Sie bringt in den ersten zwei Takten ein Motiv, das ein chromatisches Feld der tiefsten Bratschentöne ergibt. Hier kommt gleich am Anfang das unter 5b erwähnte Motiv einer 2- mit darauf folgender 2+ vor. Der Komponist befindet sich im Angesicht der Geschehnisse des 11. Septembers 2001 in einer ähnlichen Seelenlage, wie während der Auseinandersetzung mit dem Tode seiner Frau am 23.12.1984.

Es scheint, als könnten auch die hohen Flageoletts in T. 3 als Reaktion auf die Reminiszens an Michaels verstorbene Frau gedeutet werden. In T. 4 „schlägt“ dann die Bratsche dasselbe Motiv noch einmal. Hier hat der Komponist die Anmerkung „dona nobis pacem“ unter den Notentext geschrieben.
In Takt 3 ergibt sich mit dem Cello zusammen die unter 5b) angegebene Intervallkonstellation einer 6+ und 3+, die wichtig für den „Friedensakkord“ am Ende des Stückes ist. Wir haben also in den ersten Takten die zentralen Gedanken, um die das Stück kreist.
Die Ereignisse ab T. 7 könnten als lautmalerische Darstellung des Angriffs auf die zwei Türme und deren finalen Einsturz gelten. Die dramatische Zuspitzung gipfelt im Doppelgriffabwärtsglissando der drei hohen Streicher, kombiniert mit dem tiefsten Ton eines Streichquartetts C im Cello. Nach dem sehr „dicken“ Klangteppich, der sich in den Takten 7 und 8 aufbaut, haben wir in T. 9 einen ersten Klimax:
a´ mit in den Violinen erzeugten 2- im Oktavbereich g´´´+ gis´´´.
Das unisono a1 beginnt sich „aufzublähen“, fast so, als würde man im Zeitraffer eine Explosion verfolgen können, zum mikrotonalen Feld b´, a´ ,gis´, um einen Viertelton zu tiefes b´ und ein Viertelton zu hohes gis´, welches in der Lage auf dem Cello gespielt und dazu noch am Frosch, wie die anderen Streicher im übrigen auch, ein extrem aufreizendes und kratziges Klangergebnis hervorbringen.
Die in T.10 beginnende accelerierende und crescendierende Rhythmik nimmt schon das Kriegstrommelnmotiv aus dem später zitierten „l´homme armee“ voraus.

In T. 13ff beginnen in den Violinen Horngänge. Hier werden Beethovenelemente mit hineingenommen, denn die Szenerie erinnert doch sehr an die 4 Takte von Beethovens Requiem, bevor der Alt mit dem „Agnus Dei“. Den Part der Pauke, die ja die Marschtrommel, die den nahenden Krieg ankündigt, symbolisieren soll, übernehmen hier die tiefen Streicher mit einer dunkel flirrenden 9-, wobei die Bratsche noch mit dem Holz des Bogens zu schlagen hat.

Als Reaktion, und dadurch wären wir doch konzeptionell sehr dich an Beethoven, antwortet das Cello mit dem dona nobis pacem- Motiv. Dieses wird jetzt von unten nach oben, eben wie eine Beetgeste, durch die Streicher imitiert. Aber nicht nur horizontal, sondern auch vertikal durchzieht dieses Motiv das Stück:

In T. 21 beginnt auf der Zählzeit 3 in der 2. Violine das aus der Missa solemnis entlehnte dona nobis pacem-Zitat, allerdings um einen Halbton höher als das Original und in leicht abgewandelter Form. Es setzt sich in Takt 24 in der 1 Geige fort und gelangt dann in T. 26 auf das ges, das ja enharmonisch umgedeutet dem tiefsten Ton der Originalform entspricht. Die entscheidende „Zerrung“ des Zitates geschieht in der vierteltönigen Abwärtsrückung der 1. Geige in T. 25. Man könnte diese Stelle auch als Seufzerzitat auffassen.

  1. 34 beginnt das l´homme armee-Zitat in der Bratsche. Mit ziemlicher Gewalt bricht es in die Szenerie: scharf und obertonreich (sul ponticello) und äußerst betont (marcato) im dreifachen forte. Zudem noch sehr herausstechend dadurch, daß sich die Virelai-Melodie als sich bewegende Stimme alleine im akustischen Feld bewegt. Sie wird nur von einem tiefen Orgelpunkt und agressiven Doppelgriffen in den hohen Streichern „flankiert“, denen man schon kurz vor dem „Einsturz der beiden Türme“ in T.11 begegnet ist. Mit diesen staccato-Doppelgriffen zusammen erklingt in T. 35 jetzt auch die „Marschtrommel“, die im 2. Teil des Virelais vorkommt.

Die fortfolgenden Takte sind vom l´homme armee-Virelais durchzogen:Das Cello beginnt es in T. 37 erneut im pianissimo und mit der Spielanweisung: geisterhaft. Im Weiteren wird es kanonisch von den jeweils höheren Streichern übernommen. In T. 46 beginnt ein crescendo, das in T. 51 in einem forte endet. An dieser Stelle haben alle Instrumente Elemente des „Marschtrommelteils“ des Virelais (s. NB 3).

  1. 53 dann wieder „marcato“ die Staccato-Doppelgriffe (s. T. 11). Die Szenerie antwortet mit dem dem Agnus Dei der Missa Solemnis entnommenen Signaltrompeten-Motiv (s.NB2):
  2. Geige ab T.54.

Aber auch horizontal innerhalb der einzelnen Stimmen werden vom Komponisten Zitate eingeflochten:

In T. 47 beginnt die 1. Geige über das imitatorische l´homme armee- Feld eine kantilenenartige Motivik einzubringen, die sich langsam aus dem Geschehen erhebt. Man kann hier erkennen, dass es sich um die Motivik handelt, die Michael mit den Worten dona nobis pacem in Verbindung bringt (T.47-51).

In T. 64 beginnt sich diese Kantilene nochmals aus der Tiefe des Cello (dem Beginn dieses Aufstieges ist in T. 63 noch der tiefste Ton des Cello vorgeschaltet) zu erheben, um langsam in eine für das Cello extrem hohe Lage aufzusteigen. Die dona nobis pacem-Motivik erhebt sich sozusagen über das Kriegsgeschehen der drei höheren Streicher und versucht sich durch ein acclamatorisches Verharren in höchster Lage und im fortefortissimo Gehör zu verschaffen. Auffällig ist hier auch die Tatsache, dass die Bratsche in für sie ebenfalls sehr hoher Lage dem gis ´´ des Cello ein g´´ entgegensetzt.

Da die Bratsche in dieser Szenerie zu den kriegsassoziierenden Instrumenten gehört, wird der Eindruck erweckt, die Bitte um Frieden dringt gerade so eben und nur mit größter Anstrengung (extrem hohe Lage, fff !) aus dem Kriegslärm heraus.

Die Intensität des Cello wird auch nicht durch die 2. Violine beeinträchtigt, obwohl diese mit der l´homme armee-Motivik bis zum c´´´ geht.

Übrig bleibt ab T. 75 nur die gis´´- g´´ Dissonanz die decrescendierend in einen nächsten Formabschnitt der Komposition überleitet.

Der nächste Formabschnitt beginnt mit einem zunächst in der Originalgestalt zitierten dona nobis pacem-Zitat aus der Missa Solemnis. Der Tenor dieses Abschnittes ist das genaue Gegenteil des vorangegangenen Abschnittes, was man schon den ersten Vortragsangaben entnehmen kann: neues Tempo: andante, nach und nach sich beruhigend (von Viertel = 80 auf Viertel = 56) und „dolce“. Die in Aktion sich befindenden Instrumente con sordino.

Die Bratsche „singt“ (dolce, con sordino) die Melodie bis zu dem Ton a´. Das im Original folgende g´(bei Beethoven die Septime eines Dominantseptakkordes nach D, welcher dann trugschlüssig aufgelöst wird nach h-moll mit Sextvorhalt. Die folgende vermeintliche Quinte von h-moll, fis´, wird jedoch durch den auf der Zählzeit 4 gebrachten neuen Basston d zur Durterz von D-Dur. Ein interessanter Aspekt bezüglich seiner aufhellenden Wirkung) wird bei Michael zum gis´. Durch die Hochalteration „zwingt“ dieser Ton zur Umkehr (Um-, bzw. Abkehr vom Krieg als Appell an die Menschen?). Es folgt auch die „erzwungene“ Richtungsänderung zum ais´.

Nachdem die 1. Geige das gis´ vom Cello übernommen hat und weiterführt zum a´, gis ebenfalls mit Dämpfer und mit der Spielanweisung „dolce“, beginnt sie in T. 79 das Beethoventhema zu imitieren. Sie bringt jetzt in T. 82 auf der Zählzeit 5 das g´ der Originalform, das über ein Viertelton zu tiefes g´ ins fis´ „sinkt“.

So endet dieser Formabschnitt auch mit einer sehr subtilen und zerbrechlichen Klanglichkeit, da die erste Violine und die Bratsche mit ihrer ais´-fis´-Großterz immer noch mit Dämpfer im pianissimo spielen. Hinzu kommt ein Flageolett-Ton des Cello, d´´´, der dem Klangbild noch eine ätherische Note gibt.

Nachdem die Töne quasi im Nichts verschwunden sind, folgt eine Fermate über einer Pause, als ob die dona nobis pacem-Bitte in die Stille hinein nachwirken soll.

 

Die folgenden Takte scheinen von Seufzermotivik bestimmt zu sein. Eine zentrale Rolle spielen hier die Töne a und gis. Sowohl horizontal, als auch vertikal stehen sie in Beziehung:
Die erste Geige spielt a, dann gis (T.90). Cello spielt Leersaite G und gis.

In T. 93 wird das gis auf einmal zur Durterz eines E-Dur-Dreiklanges, der von dem tiefen Cello verschleiert wird.

Die Sekundschritt aufwärts-Bewegung der Oberstimme der Cello-Quinte wird später in die hohen Sreicher übernommen (T.87,88, 1. und 2. Viol.).

Seufzer finden sich in T.91, 2.Viol., in T. 97,98, Bratsche.

In T. 100 beginnt die 2. Geige das Kopfmotiv des dona nobis pacem-Motivs zu anzudeuten, es bricht jedoch in einem Seufzer ab.

In T. 102 beginnt die 1. Viol. mit demselben Thema im piano und mit der Vortragsangabe „dolce“.

Auf der 4. Zählzeit desselben Taktes reagiert das Cello mit einem Motiv der inneren Zitatebene: (s.5 b)

Auch das mit der Spielanweisung „dolce“ und gezupft.

Dieser Formabschnitt endet ebenfalls ätherisch anmutend, als verschleierter a-moll-Akkord.

In T. 109 wird das dona-nobis-pacem-Motiv wieder aufgenommen. Im schnelleren Tempo (Viertel= 91-96) verzerrt das Cello das Thema (glissando!) und bringt es als Ostinato vier mal hintereinander, bis in T. 113 die Ablaufgeschwindigkeit verdoppelt wird.

Das Cello hat in den T. 109 bis 121 seinen Part pizzicato zu spielen. Ab T.116 bringt der Komponist das zitierte Thema wieder in der Art, wie T. 109 ff, wobei sich die metrische Gewichtung innerhalb der ohnehin schon verzerrten Melodik noch verschiebt.

Über dieses Ostinato des Cello findet in den übrigen Streichern während dieser Takte eine komplexe Kontrapunktik statt:

Die 1. Geige bringt das Beethovensche Thema (dona nobis pacem-Thema) in ebenfalls verzerrter, allerdings inverser Form.

Die 2. Violine beginnt einen um drei Viertel später einsetzenden Kanon (T.109ff).

Die Bratsche bedient sich ebenfalls des besagten Themas und auch in sehr abgewandelter Form und stark augmentiert (T.109 ff).

Eine kontrapunktische Besonderheit der Takte 109 und 110 ist, dass das g´´´ der Bratsche (T 109, Zählzeit 4) mit dem h´´ der 1. Viol. (T.110 , Zz 1) und dem wieder in der Bratsche erklingenden d´´ (T.110, Zz 3) das Hauptmotiv des Beethovenschen Themas ergibt. Die Dona nobis pacem-Bitte „erklingt“ sozusagen auf einer zusätzlichen Ebene.

Der Kanon zwischen Viol. 1 und Viol. 2 mündet in T. 112 in ein „Seufzerfeld“, das die 1. Viol. mit mikrotonalen Seufzern und die 2. Viol. mit einem „Passus duriusculus“ (von f´´ bis c´´) gestaltet.

In T. 118 beginnt sowohl eine dynamische Steigerung, als auch eine Steigerung des inneren Tonus der Spieler (Vortragsangabe: piu intenso, accelerando), die in Takt 122 mit neuem schnelleren Tempo die „Kriegstrommel“-Motivik des l´homme armee-Virelais bringt.
Auch im Folgenden bedient sich die 1. Viol. des l´homm armee-Themas (T. 123 ff).

Kontrapunktiert wird die 1. Stimme von den unteren Streichern, die das dona-nobis-pacem-Motiv (Missa solemnis) kanonisch und wie im Vorfeld in verzerrter Form sozusagen „voreinander hertreiben“.

So wird es denn auch in T. 127 sehr „martialisch“:

Alle Streicher haben fortissimo und „martellato“ zu spielen, die Dichte des Klangfeldes nimmt zu, indem die Spieler zu den gegriffenen Tönen Leersaiten mit zu streichen haben, die von den gegriffenen Tönen dazu noch sehr weit weg liegen:

Die 2. Violine spielt in sehr hoher Lage ein Motiv b´´´,b´´´,des´´´, wobei das b´´´ zusammen mit der Leersaite a´zusammenklingt. Oktviert man das a´ nach oben, so ergibt sich die Intervallkonstellation von 3+ , also a´-cis´ ( hier enharmonisch des) + b´´ . Es liegt hier also wieder ein Zitat, oder besser eine typische unter 5 a erwähnte Intervallkonstellation vor und das an einer Stelle in der Partitur, an der die Szenerie sich „hämmernd“ und mit hoher klanglicher- (ab T.128 spielen alle Streicher ausschließlich mehrstimmig) und zunehmender Ereignisdichte (fast alle Streicher spielen durchgehende Achtel) auf einen Höhepunkt (der Verzweiflung: Vortragsangabe: „desperate“ + fortefortissimo) zubewegt.

An dieser Stelle (T.130) „stürzt“ die 1. Viol. vom es´´´ + Unteroktave als Doppelgriff hinunter ins g´+ Unteroktave.
T. 132 enden diese aufbringenden Takte in einem aggressiven Klang, der von den unteren drei Streichern wieder eine extrem hohe Lage abverlangt.

Die Klanglichkeit wird, wie schon an anderen Stellen der Komposition, durch eingegrenzte chromatische Cluster bestimmt, die meistens aus nicht mehr als drei Tönen bestehen und auch „auseinandergezerrt“ (d.h. in 7+, oder 9- -Konstellation) erscheinen können.

Michael erzeugt durch so etwas sehr dissonante Situationen, die an expressiven Stellen als dramatisches Mittel eingesetzt werden.

Hier in den Takten 132/133 steht ein solcher Klang im dreifachen forte, das nach dem Srichwechsel zum Aufstrich noch crescendiert.

Der Schärfe des Klanges wird sogar noch dadurch erhöht, dass der höchste und der tiefste Ton im Abstand eines Tritonus stehen.

Interessant ist an dieser Stelle der Partitur die Vortragsangabe über der darauf folgenden Generalpause, in die sogar noch ein ritardando notiert ist:

Eine wie versteinert wirkende Pause!

Der nächste Formabschnitt beginnt mit neuem viel ruhigerem Tempo.

Das Cello beginnt mit einer 6+. Dies ist der Anfang des (s. 5 a/b) des 6+ und 3+-Motivs, denn das es´ in der 1. Viol. ist die Fortführung desselben. Die in der Geige folgende 2- nach e´ lässt vermuten, das es sich um eine Kombination von 5a und 5b handelt ( siehe dazu die Takte 16 ff).

Auch im Folgenden zitiert die 1.Vol. 3+ dann 6+ mit anschließender 2+ (jetzt abwärts) (T.138).
Unter den in T.139/140 erklingenden Flageoletttönen bringt Michael ein neues Zitat ein.

In T. 141 beginnt die Bratsche eine ostinate Figur, die derjenigen sehr ähnlich ist, die in T. 102 f von der 1 Viol. gespielt wird und von dem dona nobis pacem-Motiv aus der Missa Solemnis abgeleitet ist. Es wird in der 2. Viol. in ähnlicher Folge und in Augmentation imitiert.

Diese Takte haben schon etwas Losgelöstes, was später das klangliche Bild des Schlusses bestimmen wird.

Mit diesem Motiv geht es in T. 149 ff auch in der 2. Geige weiter, während die 1. Viol. mit ihrem Kontrapunkt Elemente (insb. rhythmisch) der l´homme armee Melodie spielt, gleich darauf (T.153) jedoch die von der 2. Viol. begonnene Melodie in transponierter Form aufnimmt.

Hier antwortet die 2. Viol. mit Vierteltonseufzern und übernimmt gleich darauf die Fortführung des o.g. Themas.

Das Cello bringt in T.154 das zum Original um eine 7- hochtransponierte Thema aus Josquins Missa da Pacem gleich zweimal hintereinander.

In den Takten 149-166 häufen sich die Seufzermotive:

T.156, Viol. 2 spielt a´- gis´,

T.157: Bratsche, wieder a- gis, nur eine Oktave höher,

T.158: 2. Viol.: es´´´- d´´´.

T.156-157: b´- a´,

T.160: 1. Viol.: a´´- as´´

T.160, Zählzeit 5: c´´´- b´´,

T.163, 2. Viol., Wieder a´´- gis´´ und die darauf folgenden Takte, in denen sich das lang angehaltene ais´´ schließlich in das a´´ bewegt und wiederum als Kontrapunkt zum dona nobis pacem-Thema der Missa der Missa Solemnis mit Vierteltonseufzer (T.166, 1. Viol.) erscheint.

In diesen Takten 149-166 ist das dona nobis pacem-Thema der Missa solemnis in abgewandelter Form ständig präsent:

In der Bratsche (T.152/153) als Flageolett. Die 2. Viol. (T. 154/155), die 1. Viol in T. 158/159, 2. Viol. T . 160/161.
Quasi hinten rangehängt, entweder an das dona nobis pacem-Thema der Missa Solemnis, oder an das Josquin-Thema ( meistens jedoch an den 2. Teil von diesem (s. 3) erscheinen die Seufzer.
Der nächste Abschnitt beginnt mit der Überschrift „ludicamente“ und tatsächlich erscheint es, als würde etwas ätherisch lichtes in Dialog mit etwas niederem treten:

Die 1. Violine spielt eine gr. 10. Vor allem der Flageolett-Ton gis´´´´ , der in ruhigen Achteln im Wechsel mit e´´´ ( auch als Flageolett) gespielt wird, erweckt diesen Eindruck (T.170). Diesen Eindruck erweckt zusätzlich, daß´ die 2. Viol. gleichsam „antwortet“ auch mit einer 3+, aber in einer ganz anderen tieferen Lage (g´´, es´´) und einen Halbton tiefer.
Hier hinein wieder die Bitte um Frieden, die die Bratsche in das akustische Feld hineinspielt (T. 171). Sie wird immer „zögerlicher“, das Thema zerbricht förmlich (T. 173 ff).

Der Part des Cello erinnert an die ersten „Äußerungen“ in den ersten Takten, nur das hier in den Takten 173 ff das F eine große Rolle spielt.

Als interpretatorische Vermutung, zu der der Komponist selbst durch Hinweise in diese Richtung angeregt hat, könnte man sagen, dass Michael ein Spiel mit Initialen seines Namens und denen seiner verstorbenen Frau spielt:

es und g in der 2. Viol. würden dann für Siegried stehen und das F für Frank. Eine weitere Interpretation dieser Stelle der Partitur überlasse ich dem Leser.

Der letzte Abschnitt der Partitur ist überschrieben mit „calmo“.

Auch hier finden wir wieder bekannte Elemente:

Der Akkord in T. 177 zeigt eine 2+ auf, von der 2. Viol. als Doppelgriff gespielt.

In der 1. Viol. soll auch ein Doppelgriff gespielt werden d´´´,h´´´, also eine 6+. Wir haben hier also wieder die Intervallkonstellation 3+ und 6+ (s. 3).

Im Cello erklingt wieder ein F.

Nimmt man die Töne der 2. Viol. und das Flageolett-e´´´ der Bratsche, so ergeben sich die Initialen von Michaels verstorbener Frau : Siegried Eppinger mit dem Initialbuchstaben seines Vornamens F .

In T.178 ergeben die Töne e (Bratsche), cis´´ (2.Viol.) h´ und a´ die Bestandteile eines von dem dona nobis pacem-Thema der Missa Solemnis abgeleiteten Motivs, wie man es z.B. in den Takten 141 ff in ähnlicher Form findet. Auffällig ist der diatonische A-Dur Charakter insbesondere der Takte 141 ff, wie auch hier in T. 178 (man kann im übrigen an einigen Stellen der Komposition Ansätze von, oder reine Diatonik feststellen: T. 14, „Horngänge“ der 1. Viol., an Stellen, an denen die l´homme armee-Motivik eingeflochten wird und eben an allen Stellen, an denen das dona nobis pacem-Thema der Missa Solemnis oder Teile davon zu hören sind. Insbesondere diese Stellen bezeichnet der Komponist häufig mit der Spielanweisung „dolce“).

Mit dem C im Cello und dem e in der Bratsche haben wir wieder den Intervallabstand einer 3+, die (im Sinne des kompositorischen Materials) dazugehörige 6+ findet sich in dem cis´ der 2. Viol.. Darüber in der 1. Viol. die übermäßige 8, die sich ebenfalls zwischen Cello und 2. Viol. ergibt (man denke sich zwei Oktaven weg).

zu 2e)
Zu zahlensymbolischen Aspekten betrachte man den Kommentar des Komponisten selber:

Er schreibt in einem Vorkommentar zur Partitur:

„…und so hat dieses Quartett 180 Takte, ist doch die 18 (als zweifache 9) eine heilige Zahl in allen Weltreligionen: Judentum, Christentum, Islam, aber auch Hinduismus und Buddhismus.

Der gesamte Titel des Werkes ergibt die Zahl 576. In ihr ist die 24 verborgen, als 24×24.

Die Zahl der Totalität. Und auch die Anzahl der Buchstaben des griechischen Alphabets und der musikalischen Töne: Musik als klanggewordene Zahl, als Hinweis auf die Sphärenharmonie.

Abschließende Worte zum Analyseverfahren:

Es ist nicht möglich, alles was in der Partitur steht in einen logischen Zusammenhang zu bringen, um ein „nahtloses“ Erklärungsmodell für eine Komposition zu erstellen. Dies wäre auch ein überflüssiges Unterfangen.

Wichtiger ist es, Hinweise, die die Komposition einem in die Hand gibt, wahrzunehmen und in Zusammenhang mit dem außermusikalischen Gedanken, der den Komponisten angeregt hat, zu bringen. Im Falle des Streichquartetts Nr. 66 „dona nobis pacem“ von Frank Michael ist dies auch durchaus angebracht, da die Intention, ein Stück mit einem solchen Titel zu schreiben, mit der Bezugnahme auf die Geschehnisse des 11. September 2001, offen auf der Hand liegt.

Aus einiger persönlicher Kenntnis über den Komponisten sind hier einige Rückschlüsse musikalischer Ereignisse auf außermusikalische Gefühle oder Dinge, die denselben bewegt haben mögen, meinerseits gezogen worden.

Ich selbst fühle mich nicht in der Lage, starke affektive Momente innerhalb dieser Komposition abstrakt als rein musikalische Phänomene zu beschreiben. Vielmehr fühle ich mich „genötigt“, auf die emotionalen Beweggründe, die die musikalischen A- und Effekte hervorrufen, hinzuweisen, oder, was manch einem wohl besser gefallen mag, zu spekulieren.

Trotzdem ist die vorliegende Komposition in ihrer Sprache sehr direkt und lässt auf ihren emotionalen Gehalt wenig Zweifel aufkommen.

Diese Analyse ist meinem lieben Freund und Lehrer Frank Michael gewidmet, dem ich hiermit danken möchte für die Erlaubnis, seine Partitur öffentlich abzudrucken.