Zum Inhalt springen

Nocturne cis – moll, op. 27, Nr. 1

Analyse des Nocturne, cis-moll, op. 27, Nr. 1

Diese Analyse soll natürlich eine Abhandlung über die harmonischen Geschehnisse sein. Was aber Hand in Hand hiermit gehen sollte und eigentlich auch nicht davon zu trennen ist, ist die ganzheitliche Betrachtung sämtlicher Vortragsbezeichnungen und deren Beziehung zu der harmonischen Disposition.
Hierbei wäre neben Tempo, Taktart, Dynamik und dynamischer Entwicklung, Artikulationszeichen und Äußerungen des Komponisten, die den Klangcharakter betreffen, insbesondere die Phrasierung zu beachten. Denn gerade die spielt in diesem Nocturne, wie überhaupt bei Chopin, eine (leider selbst von sehr guten Pianisten viel zu selten ernst genommene) sehr wichtige Rolle.
Es scheint in diesem Stück sogar eine Art seltsamer Dissens zu bestehen zwischen den harmonischen Verhältnissen und der Phrasierung.
Aus diesem Grund versucht diese Analyse auch aufzuzeigen, was diese Situation für eine interpretatorische Konsequenz nach sich zieht oder wenigstens nach sich ziehen sollte oder könnte.
Deshalb sind während der Analyse so genannte interpretatorische Kommentare (i.K.) eingefügt, um diesen Dissens näher zu betrachten und auch, um über die Stimmung, über den „Gefühlsgestus“ zu spekulieren.

Form:

Die Großformale Anlage des Stückes ist:

A (T.1-28), B (T.29-83), A (T.84-101)

Wobei der A-Teil noch einmal unterteilt ist in:

A, a (T.1-19) und A, a` (T.19-28)

Der B-Teil ist ebenfalls eingeteilt in

B, a (T.29-64) und B, b (T.65-83)

Am Ende gibt es noch einen Coda ähnlichen Teil (T.94-101).

Takt und Metrum:

Das Nocturne ist im Viervierteltakt notiert. Allerdings weisen einige Dinge darauf hin, daß Chopin keinen Vierertakt gemeint hat, sondern vielmehr im alla breve Metrum denkt:
1.) Die ostinate Figur der linken Hand ist, durch die Balkierung zu ersehen, als Sechstole notiert (also nicht vier Triolen, sondern zwei Sechstolen).
2.) Hinter der Tempoangabe „larghetto“ steht eine mälzelsche Metronomangabe, die als Puls Halbe angibt (Halbe entsprechen MM 42, was dann auch wiederum auf Viertel gesehen das „larghetto“, also die Verkleinerungsform (und damit schnellere) verständlich erscheinen läßt, denn MM 42 wäre auf Viertel gesehen natürlich viel zu langsam und höchstens als „largo“ zu bezeichnen).
NB 1

Diese Analyse wird aus Gründen der einfacheren Darstellung (und nur aus diesen) entsprechend der vorgezeichneten Taktart vom Viervierteltakt ausgehen.

Text:

Das Stück beginnt mit einer ostinaten Figur.

NB 2

Sie besteht aus dem Grundton der Tonart des Nocturne Cis und der Oberquinte. Von hier aus springt die Figur zum gis, um über cis und Gis wieder hinab zum Grundton Cis zu gelangen. Dieser steht jetzt aber nicht auf einer metrisch schweren Zeit, da er der letzte Ton einer Sechstolengruppe ist (zum Problem der Metrik s.o.). Am Beginn der nächsten Sechstole steht die Quinte Gis als metrisch zweitschwerste Zeit. Chopin bestätigt die metrische Verschiebung vom Grundton zur Quinte, indem er sie in T. 2 auf der Eins bringt und dies sogar noch durch ein crescendo, das sich auf die Eins des 2. T. „zubewegt“ unterstützt. Die Quinte bleibt im Folgenden auf den schweren Zeiten.

I.K.:
Die Tatsache, daß schon ab der 2. Hälfte des 1. Taktes die „instabile“ Quinte der Tonart auf schwerer Zeit gebracht wird und dies auch im folgenden der Fall ist, bedeutet für die Interpretation, daß Chopin offensichtlich gleich schon ab dem ersten Takt eine Stimmung erzeugen will, die nicht in sich ruht oder „festen Grund“ hat, sondern eine „instabile“, eine zur Ruhe sich sehnende, diesen Zustand aber nicht erreichende Seelenlage suggeriert. Dieser Sachverhalt ist für den Gesamttenor des Stückes ein überaus wichtiger Aspekt, da er im Folgenden auch auf anderen Ebenen zu tragen kommt.

Ein sich in diesen Tenor einfügender Aspekt ist die Ungewissheit über das Tongeschlecht, denn obwohl aus der Vorzeichnung von 4 Kreuzen und dem Beginn mit Cis ersichtlich ist, daß es sich um cis-moll handelt, spart Chopin die Terz der Tonart in den ersten zwei Takten aus, so daß sich ein „hohler“ Oktav-Quint-Klang entfaltet.
Hierbei ist zu erwähnen, daß die Dur-Terz (eis´) latent im Obertonfeld dieses Klanges vorhanden ist, wie auch die Septime (h`).
Umso überraschender ist, daß als erster Melodieton die Moll-Terz (T.3) erscheint. Auf der Zählzeit 3 desselben Taktes kommt die Dur-Terz und in der linken Hand die Septime, also ist jetzt notiert, was im Anfang latent im Klangfeld vorhanden war

NB 3 (T.3,4,5)

Merkwürdigerweise löst sich diese Zwischendominante zur 4. Stufe nicht gleich auf, sondern dieser schwebende und auflösungsbedürftige Zustand wird mit hinübergenommen nach T.4. Erst auf der Zählzeit 3 desselben Taktes erscheint fis-moll auf der Terz, wobei auch hier der tiefste Ton nicht der Grundton, sondern die Quinte Cis.
Das fis´´, als Auflösung der Klausel eis´´ -fis´´ bleibt liegen. In der Begleitung steigt das bis jetzt stets präsente cis halbtönig aufwärts ins d, die Capazitas Sextae von fis-moll. Auch die Quinte erscheint im Klangfeld als letzter Ton der Sechstole.
Dieser funktionenanalytisch als Subdominante mit Quint-Sext zunächst auf der Terz, im gesamten Klangfeld dieser eineinhalb Takte (T.2, ab Zählzeit 3 und T.5) aber auf der Quinte stehende (Cis) Akkord, entwickelt sich nicht weiter, sondern scheint sich hier „festzufahren“.
Das Cis, was hier punktuell betrachtet als Quinte von fis-moll erscheint, hat die ersten 5 Takte eher die Funktion eines Orgelpunkt, oder einer stets präsenten Klangfarbe.

I.K.:
Trotzdem sollte der Interpret ihn (den Ton Cis) nur Klangfarbe sein lassen und die metrische Vorrangigkeit des Gis herauskehren.

An dieser Stelle (T.5) geht die Melodie einen eigenständigen Weg:
Horizontal betrachtet entwickelt sich die Melodie ab T. 3 von der cis-moll-Terz äußerst schwerfällig über die Dur-Terz zum fis, kann sich dort eine Zeit halten, um dann „abzusacken“, wieder, entsprechend der melodischen Abwärtstendenz, über das e´´ und ab dem d´´ chromatisch in den Leiton zum cis, his´´.
Diese „energetische“ Kurve spiegelt sich auch in den Dynamiknadeln wieder. Auffällig ist auch, daß der Komponist den ersten Melodieton mit gedämpfter Stimmung „sotto voce“ notiert, was die ansteigende Intensität der Linie insbesondere auf klangfarblicher Ebene noch unterstützt.

I.K.:
Die ganze Melodie der r.H. fasst Chopin unter einem großen Bogen zusammen, d.h., wir haben hier eine musikalische Sinneinheit.
Interessant ist nun die Zäsur hinter dem Leitton. Dieser führt nun nicht unter demselben Bogen weiter bis zu seiner Auflösung. Eine solche Interpretation würde also der Phrasierung widersprechen. Vielmehr ist es hier angebracht eine wirkliche Zäsur zu machen, indem man agogisch das Tempo drosselt und quasi so tut, als ob hier das Ende einen Abschnitts wäre.
Folglich ist das folgende cis´´ (T.6, Zählzeit 1) auch nicht in Zusammenhang zu bringen, sondern es beginnt hier „a tempo“ ein neuer Abschnitt, eine neue Phrase. Die vorhergehende Phrase endet hier quasi unvollendet. Sie bleibt unbeantwortet.

NB 4 (T.6)

chnoc_nb4_400

 

Genau die gleiche Stimmung findet sich in T.9, wo die Auflösung des Leittones überhaupt nicht, oder nur sehr viel später erfolgt. Rückblickend bietet diese Stelle (T.9,10) eine Interpretationsvorgabe.
NB 5 (T.7,8,9)

Der Takt 6 ist folglich nun auch nicht das Ende einer Kadenz, sondern bildet eher den Beginn einer neuen Phrase.
Es scheint, als würde der Wiederholung des Themas die aufsteigende Quinte cis´´- gis´´ mit folgender ins e´´ absteigender Linie vorgeschaltet. Das e´´ in T.7 bildet den ersten Ton der Wiederholung des Themas, allerdings in anderem harmonischen Kontext:
Die 1. Hälfte des Taktes bringt einen cis-moll-Akkord, der wieder auf der Zählzeit 1 mit der Quinte beginnt.Der letzte Ton dieser Sechstole ist nun wieder das Cis, dessen klangliche Dominanz jetzt durch das `H abgelöst wird, das Grundton einer Zwischendominante von E-Dur ist.
Der erste Melodieton der Wiederholung des Themas (e´´) steht nun nicht mehr in einem cis-moll-Kontext, sondern wird mit E-Dur harmonisiert, welches aber sofort über den Durchgangston ´H der Baßlinie in das Cis geführt wird. Dieser Ton bleibt nun wieder als eine Art Orgelpunkt im Grunde bis zum Beginn des nächsten großformalen Abschnitts als solcher bestehen.
In T. 7 wird die Mollterz „gestreckt“, so dass sich das (horizontal gesehen) Aufwärtsteigen der Melodie noch mehr in die Länge zieht. Das „Absacken“ des Themas geschieht zeitlich in genau derselben Zeit wie bei dem ersten Erklingen des Themas.
Harmonisch spielt sich in den Takten 8 und 9 das Gleiche, wie in den Takten 4 und 5.
I.K.:
Das, was am Ende von T.5 passiert, geschieht (wie o.g.) hier noch einmal, mit dem Unterschied, daß Chopin hier den o.g. Gedanken einer unvollendeten, „abgeschnittenen“ Situation verdeutlicht, indem er den Leitton his´ nicht auflöst, sondern ihn als Fragezeichen unaufgelöst stehen läßt. Derselbe harmonische Kontext (fis-moll mit 6 und dem Cis-Orgelpunkt als tiefsten Ton) bleibt einen ganzen Takt lang stehen.
Das nun in T.11 folgende cis´´´ mit Unteroktave ist auch wieder Beginn einer neuen Phrase.
Als Hinweis für die so aufgefasste Situation dient in recht eindeutiger Weise die Länge der Phrasierungsbögen. Eine Situation, in der der Leitton in den Grundton der aktuellen Tonart geführt wird, würde so aussehen, daß der Phrasierungsbogen den Auflösungston
miteinbezieht.
Der Interpret sollte dies in oben beschriebener Weise, vornehmlich mit Agogik, verdeutlichen.
Das nun folgende Thema ist ein zweiter melodischer Gedanke. Und doch nicht ganz neu, da das Initialmotiv cis´´´ – gis´´ schon einmal in T.6 erklungen ist. Dort ist der Zeitwert des Tones gis´´ eine Halbe, hier in T.11 wird er mit einem Betonungskeil versehen.
Horizontal gesehen fällt die Melodie vom hohen Grundton cis´´´ zur Quinte und von dort weiter linear ins cis´´, schwingt sich von dort wieder zur Quinte, um wiederum in den über eine phrygische Tenorklausel in das cis´´.
NB 6 (T.10-15)

Das habltönige Ansteuern des cis von oben hat eine besonders starke Schlußwirkung. Umso überraschender ist die Weiterführung der Linie abwärts zum Dominantgrundton.

I.K.:
An dieser Stelle in T.14 ist es angebracht, ähnlich wie in T.5, eine Zäsur zu machen, um die folgende Phrase von dieser abzugrenzen. Diese Zäsur sollte so eindeutig sein, daß der Interpret genug Zeit hat, das folgende gis´´ (T.14, Zählzeit 4) als Auftakt zum cis´´´ (T.15, Zählzeit 1) darzustellen. So endet die unter dem letzten Phrasierungsbogen zusammengefasste Melodie, im Sinne des „Gestus des Unaufgelösten, Offenen“ auf der Dominante.

Vertikal gesehen haben wir ab T.11 ein Feld von abwechselnd Tonika (T.11, erste Sechstole) und Dominante (T.11, zweite Sechstole, NB 6).
Allerdings bleibt auch hier wieder das Cis als Orgelpunkt bestehen.
Abgesehen von dem gis´´ (T.14, Zählzeit 4) als Auftakt zum folgenden cis´´´, ist die nächste Phrase eine Wiederholung der Takte 11-14, mit Ausnahme des Schlusses.
In T.17 auf den Zählzeiten 3 und 4 gibt es die erste vollständige Kadenz des Stückes mit der Folge:

t, s6, D7

In der rechten Hand haben wir wieder die phrygische Tenorklausel, die in T.18 auf den Grundton der Tonart cis-moll fällt.
Erst im letzten Takt des ersten großen Formabschnitts, der sich von T.1 bis T.18 erstreckt, kommen wir also zu einer eindeutigen harmonischen Schlußsituation in der Haupttonart.
NB 7 (T.16-18)

I.K.:
Diese Tatsache ist symptomatisch für den Tenor dieses Stückes. Die Stimmung suggeriert etwas, was irgendwie ziellos ist, nicht weiter bis zu Ende geführt werden kann. Oder es geht um etwas, was sich entwickeln möchte, was aber in der Entwicklung an einem Punkt nicht fortschreiten kann.

So kommt denn auch in T.18 auf der Zählzeit 3 der Oktav-Quint-Klang des Anfangs. Es stellt sich sogleich die Unsicherheit über das Tongeschlecht ein.

In T.19 beginnt der nächste Formabschnitt (Aa´), der vom Prinzip eine Wiederholung des ersten ist, obwohl es der Form des Themas entspricht, wie es in den Takten 7-9 auftritt.
Chopin flechtet in T.20 eine zweite Linie ein, die das rhythmische Motiv der punktierten Achtel und folgender Sechzehntel aufnimmt, aber nach einem Takt schon wieder in einer Ganzen fis´ stehenbleibt.

NB 8 (T.19-21)

Die eben entstandene Linie stagniert schon wieder. Dies scheint ein Versuch zu sein, eine Mehrstimmigkeit zu entwickeln, etwas entstehen zu lassen, das aber, entsprechend des Geistes des Stückes, in seiner Entwicklung gehemmt zu werden scheint (NB 8).
T.21 haben wir bezüglich des Abreißens der Melodik die gleiche Situation wie in T.5 (s. NB 3), mit der Ausnahme, daß hier auf der Zählzeit 3 eine dominantische Funktion ist.
Immerhin wird hier im Gegensatz zu T.5 in der harmonischen Entwicklung schon bis zur Dominante fortgeschritten.
Im nun folgenden Teil ist wieder ein interessanter Unterschied in der Phrasierung festzustellen:
Während der in T.6 beginnende Phrasierungsbogen über den Beginn des Anfangsgedankens (T.7) hinaus bis zum Ende (his´, T.9, Zz. 4) gezogen wird, spaltet Chopin in T.20 den schon in T.6 vorgestellten und in ähnlicher rhythmisch- melodischer Form erschienenen Gedanken vom weiterschreitenden Anfangsthema ab (NB 8).

I.K.:
Um hier die eben erwähnte Tatsache deutlich herauszubringen, scheint auch in T. 21 eine Zäsur angebracht zu sein.

In T.22 beginnt das Thema von neuem in der Version von T.6:

NB 9 (T.22-26)

Das aufsteigende Quintmotiv kehrt in der 2. Stimme wieder:
e´ steigt über das mit oberer und unterer Wechselnote umspielte a´ ins h´ (Quinte von e´) auf, um dann über das punktierte Achtel und folgender Sechzehntel-Motiv in die Quinte von cis-moll zu fallen (gis´,T.23).
Mit genau diesem rhythmischen Motiv baut Chopin jetzt eine imitatorische Stelle, die über zwei Takte (25,26) einen Oktavkanon bildet. Sie endet genau so fragend, so unvollendet wie die erste Stimme. Dazu kommt, daß hier wie in T.5 harmonisiert wird (NB 3).
Die linke Hand behält die fast undefinierbare Harmonik, die mit s56 mit 5 im Baß bezeichnet werden könnte (angemessener ist es jedoch, das Cis als Orgelpunkt zu bezeichnen und ihn nicht funktional zur Subdominante zuzuordnen. Diese würde dann nur als s 6 bezeichnet werden) in den Takten 27/28.

NB 10 (T.27/28)

I.K.:
Die Stimmung in T.26 hat sich durch die zweite Linie in ihrer Intensität noch verstärkt. Die Möglichkeit, die 2.Stimme könne die Unfähigkeit der Linie, sich fortzuentwickeln, womöglich aufheben, ist nun endgültig zunichte geworden.
Interessant ist auch, dass Chopin in den Takten 27/28 keine Pausen notiert. Es wirkt wie das Spiel mit unsichtbaren Dingen, die aber noch in diese Takte hineinwirken und damit doch irgendwie präsent sind.
Aus einer anderen Perspektive, nämlich von einer, die D zum Grundton nimmt, hätten wir hier einen Oktav-Quint-Klang, der, und das würde diesen analytischen Gedanken unterstützen, auf seinen metrisch schweren Zeiten die Quinte hat, was ja sofort nach Beginn des Stückes (T.1, Zählzeit 3, Quinte von cis-moll) die o.g. Stimmung provoziert. Und trotzdem ist nach wie vor das Cis im Klang präsent (es ist wenig sinnvoll, zu konstatieren, es handele sich hier um D-Dur (oder d-moll?) mit großer Septime im Baß).
Harmonisch eindeutig ist es nur einen kurzen Moment in T.28 erste Sechstole:
Hier liegt ein D-Dur-Akkord vor, der
erstens:
an dieser Stelle keinen harmonisch-logischen Bezug hat und eher eine befremdlich entfernte Stimmung suggeriert und
zweitens:
gleich wieder in einer in der nebulösen Harmonik des vorherigen Taktes endet.

I.K.:
Auch diese beiden Takte (27/28) lassen (wie auch T.10 auf T.5) einen interpretatorischen Rückschluß, wie man das Ende des Phrasierungsbogens T.21 gestaltet, zu. Hier, so auch in T.10, ist die Zäsur sozusagen auskomponiert. Da sich aber die gleichen Bedingungen in den Takten 5 und 21, wie in den Takten 9 ff und 26 ff finden, könnte man diese Stellen vom Gestus her angleichen im o.g. Sinne.
Der Formteil B ist im Dreiviertel-Takt notiert.
Sieht man sich jedoch die Phrasierung an, so haben die folgenden Takte auch eher den Gestus von Großtakten. Auch hier bezieht sich die Mälzelsche Metronomangabe auf punktierte Halbe (mit der Tempovorgabe „piu mosso“). Man könnte also sagen, es handelt sich hier um einen triolischen Zweiertakt, dessen Puls ein bischen schneller ist, als der des alla breve vom Anfang des Nocturne.(NB zwei Viertel+ triolischer Einteilung)
NB 11 (T.29/30)

Das punktierte Viertel mit folgender Achtel-Motiv des Anfangs erinnert an das punktierte Achtel und folgender Sechzehntel-Motiv aus dem Formteil A (z.B.: T.5, Zählzeit 2), was in T.29 in anderer Form wieder erscheint.
Wichtig ist die Repetition des Tones gis´ mit Unteroktave als Quinte von cis-moll (in T.29 erst als Grundton der 5. Stufe).
I.K.:
Wenn man sich die Halsung der Noten anschaut, stellt man fest, daß das e´ und das cis´ auf den Zählzeiten 2 u und 3 auf einer horizontalen Ebene sind, wie das cis´ auf der Eins von T.30 und die Septime und Quinte als punktierte Halbe auf der Eins des Taktes 29. Dies hätte die klangliche Konsequenz, daß die melodische Linie nicht über die Terz e´ in den Grundton (cis´) abfällt, sondern eben auf der Quinte bleibt. Der Interpret sollte diese Mittelstimme also möglichst eindeutig dynamisch im Hintergrund halten. Sie wird dadurch, daß sie sich bewegt, sowieso im Klangbild präsent sein wird.
Dieser Sachverhalt ist insofern wichtig, da hier im 2. Formteil kontrastierend zum ersten die Quinte „gehalten“ werden kann und außerdem diese 2. Stimme sich im Folgenden noch etablieren wird.
Im Gegensatz zum Formteil A, haben wir im Formteil B sehr einfache Dominant-, Tonikaverbindungen. So haben wir in T.29 den Dominantseptakkord auf seiner Terz cis-moll (folgt in T.30).
NB 12 (T.29-32)

In T.31 wird das Motiv der rechten Hand wiederholt, nur, daß der Leitton his jetzt in die rechte Hand genommen wird. Dies hat den Grund, daß die linke Hand eine aufsteigende horizontale Linie beschreibt und dafür nun das Dis braucht:
´His, Cis, Dis, E als jeweils punktierte Halbe (T.29,30,31,32. In der aufsteigenen Baßlinie ist das Dis auf der Eins des Taktes 31 im Baß Tenorklausel, die aber aufwärts weitergeführt, wird um das Aufsteigen der Linie zu ermöglichen).
Auch hier ist das gis im Klang präsent (in T.29 und 31 als Grundton der 5. Stufe) und dann in T.30 als Quinte von cis-moll.

I.K.:
Die Quinte gis´ erklingt wie eine Signaltrompete. Es scheint wie eine Reaktion zu sein, die die Unfähigkeit des Formteil A einen Gestus mit erhöhtem Tonus zu halten oder überhaupt zu erreichen, mit „Gewalt“ zu erzwingen.
Alles scheint sich zu erheben, auf kleinformaler Ebene und auch auf großformaler Ebene.

Die Baßlinie der Takte 29-32 ist im Aufsteigen begriffen.
Auch auf größerformaler Ebene steigt dieses Thema, was in T.29/30 vorgestellt wurde, sequenziell aufwärts:

NB 13 (T.33-36)

T.34 haben wir die Ebene der 4. Stufe, fis-moll, das durch seinen Dominantseptakkord vorbereitet wird.

T.38 steht wieder cis-moll, nur eine Oktave höher als in den Takten 29-32:

NB 14 (T.37-40)

T.42 wieder fis-moll, wiederum oktaviert (der harmonische Plan dieser Takte entspricht den Tönen der Linken Hand des Anfangs des Stückes (T.1):

NB 15 (T.41-44)

In T.45 haben wir einen verkürzten Dominantseptakkord mit tiefalterierter None als doppeldominantische Funktion zu cis-moll, der aber als Doppeldominante von E-Dur aufgefasst wird:

NB 16 (T.45-48)

Dieser Akkord müßte, um auch ein aus der Notation ersichtlicher Doppeldominantseptnonenakkord (mit tiefer 9) nach E zu sein, enharmonisch umgedeutet werden:
statt des fisis müßte ein g, als tiefalterierte None (gis) stehen.
E-Dur folgt auch in T.46 (s. NB 16).
H-Dur mit der Septime erscheint dann auch in T.47 (s. NB 16)

T.48 steht E-Dur. Hier fällt die Mittelstimme der rechten Hand über die große- in die Kleine Septime, wodurch dieser E-Dur-Akkord zu einem Strebeakkord nach A wird.
Das überraschende ist nun, daß Chopin nun sämtliche harmonisch-logischen Fortschreitungen ausspart und stattdessen in eine 8 Quintenzirkelgrade nach links entfernte Tonart springt:
Er zeichnet As-Dur (Mediante) vor und bringt diesen Akkord auch in T.49.
NB 17 (T.49)

Nochmal zurück zum Beginn des Formteils B mit der speziellen Betrachtung der dramatischen Mittel:
Als erstes wäre die dissonanzreiche und „flirrende“ Umspielung des Gis mit dessen oberer und unterer chromatischen Nebennote zu sehen. Aus dieser Figur löst Chopin ab T.37 eine Linie heraus, die eine zusätzliche sich steigernde Linie darstellt (T.37-41, jeweils in der dritten Triole der 2. Ton, s. NB 14). Diese Linie bildet mit der Baßlinie Terzparallelen.
Dann geht es in den Takten 37- 40 (Wiederholung der Takte 29-36) mit gesteigerter Intensität weiter:
die Punktierung wird verdoppelt, die Rhythmik wird schärfer.
Im Weiteren geht die Bewegung auf die nächste Eins zu:
in T.41 wird eine Triole der Eins vorgeschaltet, wie, um eine „Richtungsenergie“ zu erzeugen (NB 15). Auch dies wird in T.43 noch gesteigert.
Abgesehen von der dynamischen Steigerung von p (T.29) bis zum dreifachen forte (T.49), trägt auch die sich zum Höhepunkt in T.49 hin (ab T.45) schnell verändernde Harmonik bei.
Zu beobachten ist ebenfalls, daß Chopin innerhalb der Begleitung noch eine weitere melodische Schicht, wie oben schon erwähnt, einflechtet, diese aber in den folgenden Takten ab T.45 beschleunigt:
sie ist in den Spitzentönen in den einzelnen Triolen enthalten, z.B. cis, e, fisis, ais in T.45. Weiter in T.46´: h, e´, gis
T.48: E-Dur-Dreiklang: e, gis, h
In T.49 steigt diese Linie vom es, as, c´, es´, as´ bis ins c´´:

Dieses Prinzip wird weiterbefolgt, sodaß wir ab T.53 eine melodische Schicht über einen Orgelpunkt As mit der Tonfolge:
fes, es, f, ges, f, ges, g, as, g, as, bb in T.63:
NB 18 (T.52-66)

Dieser Ton ist tiefalterierte None von einem Dominantseptimenakkord nach Des. Allerdings nicht verkürzt, da der Orgelpunkt As noch immer liegt, bzw. repetiert wird.
Des kommt nun auch in T.65. Hier beginnt der Formteil B,b.

Noch einmal zurück zu T.53.
Chopin übernimmt hier das rhythmische Motiv des Hauptthemas des 2.Teil (also nur von den nach oben gehalsten Noten). Das interessante ist, daß er Elemente der beiden Stimmen nimmt und zu einem Thema verbindet:
das eben genannte rhythmische Motiv und das der 2.Stimme aus T.30.
I.K.:
Wie oben angedeutet, sollte der Interpret in T.29 ff die Oberstimme, d.h. die nach oben gehalste Stimme hervorheben. Die 2. Stimme in der rechten Hand sollte nicht als Fortführung der 1. Stimme wirken. Dadurch, daß das, was die 2.Stimme zu spielen hat (T.30) aber trotzdem im Klang enthalten ist, führt Chopin einen Gedanken in die Komposition ein, der sich später als vordergründiges Thema etabliert, als würde ein Same ausgestreut worden sein und die daraus entstandene Pflanze sich irgendwann als eigenständige Struktur in das Gesamtbild einfügen.
In T.65 beginnt der neue Formteil B, b in Des-Dur (NB 18).
I.K.:
Dieser Teil des Stückes scheint eine Art beschwingter Tanz im Walzertakt zu sein (Vortragsbezeichnung: „con anima“). Wie ein Triumph, sich aus der Stimmung des Formteil A herausgehoben zu haben, gibt er über 13 Takte eine Lebensfreude wieder, die bis jetzt noch nicht vorgekommen ist und sich auch bald wieder (T.78ff) in Zweifeln und einem Fragezeichen (Fermate in T.83) auflöst. Interessant ist auch, dass dieser Triumph in der gleichen Tonart steht, wie der Anfang des Nocturne, nur enharmonisch umgedeutet ( Des) und in Dur.
Auch hier (T.67, 68, 69) hat der Ton Des (enharmonisch Cis) orgelpunkt- ähnliche Funktion:
NB 19 (T.67-82)

Im Prinzip besteht dieser Teil auch aus 5 -1 Beziehungen:
In T.65 haben wir Des-Dur.
Es folgt in T.66 Ges- Dur,
in T.67 wieder Des-Dur.
Die Dominante von Des, As erscheint in T. 68 auf der Zählzeit Eins zunächst in Form eines verkürzten Dominantseptnonenakkordes mit tiefalterierter None (bb) und tiefalterierter Quinte (d´´), der auf dem Orgelpunkt- des steht. Auf der Zwei des Taktes löst die reguläre Quinte die tiefalterierte ab, um über die erhöhte Quint in die Terz von Des-Dur zu gehen. Die tiefalterierte None löst sich auf der Zählzeit 3 ins as auf.
Die Oberstimme des Taktes 68 bildet horizontal gesehen eine chromatische Durchgangslinie, die schon in T.67 auf der Zählzeit 3 mit c´´ beginnt und in die Dur-Terz in T.68 „mündet“.
I.K.:
In T.68 mit der Zählzeit 3 endet der Phrasierungsbogen. Chopin setzt hier sogar noch einen Punkt über die Noten, was bedeutet, dass hier abphrasiert werden soll. Diese Art der Abphrasierung ist eine andere, als beispielsweise in T.5 auf der 4.
Hier ist es eher die „große Geste“, die den folgenden Ton f´´ durch die klangliche „Lücke“ herausheben soll, weil dieser eindeutig der Zielpunkt einer energetischen Entwicklung ist (siehe auch die Dynamiknadeln).
In T.72 auf T.73 zieht Chopin den Bogen durch, weil hier die große Geste nicht angebracht erscheint, dadurch, dass das Thema (der absteigende Quartsextakkord) im pianissimo erklingen soll.
T.71 wiederholt T.67, allerdings mit nachfolgend anderer harmonischer Entwicklung:
Der dominantische Akkord auf der 1 des Taktes ist Dominantseptakkord zu C-Dur mit tiefalterierter Quinte. Schon auf der Zählzeit 2 löst sich der Akkord nach C-Dur auf, um auf der 3 des Taktes wieder Dominantseptakkord mit Grundton g nach C-Dur zu werden.
Auch hier wird der Ton C zum Quasi-Orgelpunkt, da er nach T. 74, in dem die Subdominante F-Dur unverschleiert, betont und mit der Vortragsangabe „tenuto“ versehen, erklingt und wieder von T.75 an der harmonischen Entwicklung zugrunde liegt.
In T.76 haben wir die gleichen harmonischen Verhältnisse, wie in T.68, nur eine 2- abwärtstransponiert.

Die Steigerung ab T.78 gestaltet Chopin mit verminderten Akkorden. Es macht hier keinen Sinn, diese in einen harmonischen Zusammenhang zu bringen, wichtig ist nur, dass die Oberstimme die melodische Linie der Takte 68/69, 72/73, 76/77 imitiert, und dadurch, dass sie das Verharren auf einer punktierten Halben (siehe T.66,70, 74) und die folgenden Achtelbewegungen ausspart, eine accelerierende Wirkung erzielt, zusätzlich zu der Vortragsangabe „cresc. ed accelerando“. Auffällig ist die Tatsache, dass Chopin in T.81 wieder enharmonisch umdeutet, als ob dies die Dramatik erzwungen hätte und als ob das Wiedererscheinen der Gefühlslage des A-Teils zu erwarten wäre (die Wahl der enharmonischen Notation scheint Chopin mit besonderen Gefühlslagen zu verbinden).

In T.81 bleibt die Melodik nun auf dem höchsten Ton (a´´) stehen, bzw. wird das a´´ repetiert.
Ab hier haben wir einen verkürzten Doppeldominantseptnonentakkord mit tiefalterierter None (a´´), die sich in T.82 auf der 3 erst in den Grundton gis auflöst. An dieser Stelle haben wir einen Durchgang cis´ im Baß, der ins his (T.83, Zählzeit 1) geführt wird. Der Leitton liegt nun im Baß. Statt dessen steht ein Sechstvorhalt vor der Quinte in dieser 2.Stimme der rechten Hand, die auf der nächsten Zählzeit 2 aufgelöst wird.

NB 20 (T.83)

Auf dem nächsten Viertel wird dann das a´´ (mit Unteroktave) in den Grundton gis geführt. Der Dominantseptakkord zu cis-moll bleibt jetzt fragend unter einer Fermate stehen.

Untersuchung der Bassoktaven-Linie in T.83:
Das dis wird angesteuert von his chromatisch aufwärts. Vom cisis springt die Linie in die chromatische obere Nebennote , um dann ins dis zu fallen.
I.K.:
Damit sich die Energie der Melodik nicht verbraucht, wird der Zielton (hier dis) nur kurz
angeschlagen, da sich unser Gehör sonst ausruhen würde und damit eine Fortführung der Linie schwer möglich würde. Im Gegensatz hierzu, kann die obere ( in diesem Fall chromatische) Nebennote sehr lange existieren, da ihr eine große tendenzielle Spannung innewohnt. Der Interpret möge diese doch so lange als möglich (aber auch nur so lange, dass es nicht zu einem Energieabfall kommt) halten!

Über die harmonische Molltonleiter von cis-moll geht es abwärts ins fisis, das über gis und die obere (in diesem Fall diatonische) Wechselnote ins a geht. Dieses ist nun Halbton über der Quinte mit Strebetendenz nach unten und fällt somit über die Quinte und reine moll-Skala von cis-moll über den Grundton hinaus in den Leitton His. Von dort in die Quinte der Dominante (dis), um dann den Dominantgrundton zu chromatisch umspielen.
Dann noch einmal zur Quinte der Dominante eine Oktave tiefer. Vor der antizipierten
Moll-Terz von cis-moll kommt noch einmal die Septime.

Beginn des Formteils A´:

NB 21 (T.84- 92)

 

T.89 beginnt die 2. Stimme erst nach der Initial – Quinte der rechten Hand. Sie ist daher noch deutlicher zu hören.
T.94 bringt Chopin jetzt ein Äußerst „extrovertiertes“ cis (Zählzeit 1) mit Betonungskeil und sforzato- Angabe. Es scheint eine Art Schlussstrich zu sein unter die Problematik, die gerade dieser Ton bewirkt zu haben scheint.

Nach diesem cis haben wir in T.94 einen berceuse- artigen Formteil, den man als Coda bezeichnen könnte:

Von der theoretischen Seite aus betrachtet ist, die Terz von Cis-Dur, eis´´, durch das fis´ (Zählzeit 3) zum Patiens gemacht. Dieses „zieht“ nun das eis´´ abwärts ins dis´´ (Zählzeit 4).
Im folgenden wird die Sexte eis (T.95, Zählzeit 1, Mittelstimme zur Oberstimme , Zz 2) durch das folgende dis´ zur Dissonanz (Septime). Diese wird in eine Sexte aufgelöst (dis´- his´).
Dasselbe geschieht nun in T.96-98 noch einmal (und hier wie dort immer mit Terzmixtur).
Die Takte 94-98 wechseln von der Harmonik nur zwischen Dominante und Tonika über einem Orgelpunkt- Cis.

I.K.:
Dieser ätherische Schluß, in dem nichts weiter geschieht, als ein „Sinkenlassen“ („calando“) der Aufgeregtheit, der Dramatik und auch Tragik der Gefühlslage dieses Nocturne, ist von einer Seelenruhe geprägt, die nichts von der depressiven und düsteren Stimmung des ganzen Stückes mitbekommen zu haben scheint. Ab T.96 gibt Chopin dem vorangegangenen „calando“ noch ein „rallentando“ hinzu.

Dieses „Runterfahren“ schwingt sich noch einmal auf in T.99 in die von Strebungen und melodischen Tendenzen freien Subdominante mit Nonenvorhalt, der zu Beginn der 2. Sextole aufgelöst wird.
In T.100 erklingt über einem Kontra-Cis ein Quartvorhalt, der sich auf der Zz. 3 in die Durterz, die mit einem sforzato und einem Betonungskeil das Dur nun endgültig bestätigt, auflöst. Die Dur-Terz bildet im letzten Klang auch die höchste Stimme.

Diese Analyse ist Herrn Ferdinand de Smidt gewidmet.

Analyse

des

Nocturne, cis-moll, op.27, Nr.1

von

Frederic Chopin

verfasst von:

Florian Fiechtner